Was sind die Grundgedanken der Körperpsychotherapie?
Spannend ist die Körperpsychotherapie schon deswegen, weil das Spüren des eigenen Körpers uns ganz grundlegend ein Gefühl der zweifelsfreien Sicherheit im subjektiven Erleben der eigenen materiellen Existenz vermitteln kann (sofern es nicht durch Dissoziationsprozesse abgespalten ist). Diese „Seinsgewissheit“ durch die Leiberfahrung ist die zuverlässigste Basis des Realitätsbezuges, was insbesondere für strukturschwache und von emotionalen Überflutungen bedrohte Patienten zentral wichtig ist. Das leibliche Befinden ist nichts statisches sondern wird in Form von vitalen Grundrhythmen erlebt: Einatmen – Ausatmen, Anspannung – Entspannung, Kontraktion – Expansion, Aktivität – Ruhe usw.
Das Körpererleben ist die Basis der Erfahrung unseres Selbst in seinen jeweiligen Befindlichkeiten und Stimmungen sowie unserer Wünsche und Ängste, Antriebe und Kontaktmuster. Im Körper erleben wir die grundlegenden Dimensionen unserer Existenz wie Vitalität, Aktivität, Kohärenz, Abgrenzung, Identität usw. Alle Formen von psychischem Leid haben eine körperliche Seite. Der Depressive erlebt seinen Körper als schwach, matt und unvital, der Ängstliche spürt im Körper Aufregung und Zurückhaltung, der Zwanghafte fühlt Anspannung und Druck. Auch traumatisierte, strukturgestörte, psychosomatische und bindungsgestörte Patienten empfinden ihre Problematik unweigerlich als und in ihrem Körper.
Aus der funktionalen Einheit zwischen psychischen Prozessen und dem Körpererleben ergeben sich fruchtbare und wirkungsvolle therapeutische Interventionsmöglichkeiten. Ein Körperpsychotherapeut kann durch Einladungen bzw. Interventionen auf der physischen Ebene des Körpers die immateriellen, psychischen (z.B. emotionalen) Prozesse eines Patienten kontaktieren und mit ihnen interagieren. Ebenso können körperliche Äußerungen psychischer Zustände prozessdiagnostisch genutzt werden, um nonverbale Feedbacksignale über emotio-vegetative Zustände und Prozesse im Patienten zu erhalten.
Ebenso wie in der Psychotherapie überhaupt ist es überaus schwierig, auf der Körperebene einen Begriff von Normalität bzw. Gesundheit zu definieren. Klar ist auf jeden Fall, dass körperliche Gesundheit nicht mit den Schönheits- oder Leistungsnormen gleichzusetzen sind. Ein gesunder Körper hat eine Schönheit, die aber nicht mit der Model-haften Attraktivität auf den Titelseiten der Illustrierten gleichzusetzen ist. Ein gesunder Körper ist leistungsfähig, aber das hat nichts mit sportlichen, beruflichen oder sonstigen Leistungsnormen zu tun.
Ich (W.E.) würde es vorziehen, statt in den kontaminierten schein-objektiven Begriffen wie „Gesundheit“ oder „Normalität“ lieber subjektiv von „körperlichen Wohlbefinden“ zu sprechen, womit dann eine weitgehende (niemals vollständige) Abwesenheit von (stärkeren, anhaltenden) inneren Beeinträchtigungen, sowie ein Zustand genereller Vitalität und Kraft zu verstehen wäre.
Die Entwicklung des Säuglings und Kleinkindes, insbesondere vor der Entwicklung der Sprache, ist vor allem ein körperlicher, emotio-vegetativer Prozess. Die Wahrnehmungen und Empfindungen des Kindes im eigenen Körper und in der körperlichen Interaktion mit den primären Bezugspersonen sind die ersten, prägenden Inhalte des Geistes und die Ursprünge des Selbsterlebens und des Identitätsgefühls. Sie werden jedoch in den frühesten Phasen nicht verbal-begrifflich erfasst, kategorisiert und gespeichert, und sind daher auf sprachlich-kognitive Weise nicht unmittelbar zugänglich. Sie können jedoch in der Körperpsychotherapie in Form von interaktivem Körpererleben in der psychovegetativen Resonanz mit dem Therapeuten erlebbar und – evtl. zunächst symbolisch – dem Bewusstsein zugänglich werden. Auf diese Weise können traumatische Invasion-oder Mangelerfahrungen, aber auch früheste Bindungs- und Vitalitätsressourcen aus der frühesten Kindheit unmittelbar im Erleben zugänglich werden.
In der Körperpsychotherapie geht man vom unmittelbaren körperlich-emotionalen Erleben der Person aus, was auf die phänomenologischen Wurzeln der humanistischen Psychotherapie verweist. Der phänomenologische Ansatz (das Ausgehend vom unmittelbar sinnlich Erfahrbaren) versteht sich als Gegenpol zu einer experimentell-statistisch verfassten, naturwissenschaftlichen Psychologie, die den Menschen als Ding unter Dingen, also objekthaft und nicht in seiner Besonderheit als Subjekt betrachtet.
Unmittelbare Erfahrung findet immer im Körper und als Körper im Kontakt mit der Welt und insbesondere im intersubjektiven und sozialen Kontakt mit anderen Menschen statt. Das leibliche Erleben vermittelt zwischen dem Ich und der Welt. Die Erfahrung der sozialen Welt ist immer ein leiblicher Akt. Der Körper ist das primäre Subjekt sozialer Erfahrung. Leibliche Existenz ist immer Koexistenz, also Zwischenleiblichkeit. Das soziale Gegenüber ist wiederum die Voraussetzung dafür, dass man sich selbst überhaupt als Person erfassen kann. Der andere ist ein Spiegel (manchmal ein Zerrspiegel) für das eigene Selbst, auch als Körperselbst. Die Vorstellung des eigenen Selbst entsteht in emotio-vegetativer, also körperlicher Wahrnehmung in Interaktion mit anderen.
Unser Erleben spielt sich stets in verkörperten intersubjektiven Systemen ab. Das beginnt im Erleben des Säuglings mit seinen primären Bezugspersonen und geschieht ebenso im aktuellen Leben des Patienten, wie auch zwischen Therapeut und Patient. Soziales und Gesellschaftliches ist und wird „einverleibt“ und ist unter der Haut spürbar. Soziale Strukturen und körperliches Erleben sind wechselseitig voneinander abhängig. In der Psychotherapie geht es primär um das Erleben aktueller und biografischer zwischenmenschlicher Erfahrungen, die in ihrer Bedeutung unmittelbar als Emotionen und Stimmungen im Körper erfahren werden können. Das Spüren, das emotio-vegetative Erfahren von Stimmungen im Körper gibt uns eine unmittelbare Orientierung und Zielrichtung, die jedoch kritisch reflektiert werden muss.
Beispielsweise wäre es im Bereich von Ängsten oder Süchten fatal, wenn sich ein Patient an seinen unmittelbar zugänglichen Gefühlen orientieren würde. Diese würden ihm nur signalisieren: „Bleib weg von U-Bahnen/Flugzeugen/Hunden – die sind gefährlich!“ oder „Wenn du irgendwo Alkohol/Drogen/Schokolade/Tabletten findest, greif zu und nimm davon, soviel du kriegen kannst!“. Hier ist es gerade die Aufgabe von Psychotherapie, in Auseinandersetzung mit den unmittelbaren Gefühlen und Impulsen des Patienten diese allmählich reflektierend zu durchdringen und ihren Abwehr- und Kompensationscharakter erfahrbar zu machen, nicht aber den Patienten bei einer einfachen „Orientierung an seinen Gefühlen“ zu unterstützen.
Das mehr oder weniger verfestigte Bild, das wir von unserem Körper und von uns als Körper haben, unser „Körperselbstbild“ ist eine grundlegende, existenzielle und unentbehrliche psychische Struktur und die Basis unserer Identität. Das Körperselbstbild entstand ursprünglich durch Informationen aus der Introzeption (der Wahrnehmung der körperlichen Innenwelt), der Propriozeption (Wahrnehmungen eigener Körperbewegungen) und der Exteriozeption (Wahrnehmungen der Außenwelt). In Form von Körpererleben lernt der Mensch in der Interaktion mit anderen sich selbst als zeitlich überdauernde Einheit zu erleben und zwischen sich als Subjekt, anderen Subjekten und der Welt zu unterscheiden.
In der Körperpsychotherapie können intrapsychische Dynamiken und psychodynamische Hintergründe durch körperorientierte Rollenspiele („Biodrama“) prägnant herausgearbeitet, erlebnisorientiert zugänglich gemacht, auf symbolische Weise ins Bewusstsein gehoben und z.B. durch die Arbeit mit Körperassoziationen transformiert werden. Projektionen, Ängste, unterdrücktes Begehren, nicht gefühlte Gefühle oder Impulse können auf diese Weise unmittelbar körperlich erlebt, verstanden und kommunizierbar werden.
Körperpsychotherapeutische Arbeit mit Bewegungs- und Ausdrucksimprovisationen können als körperliche Analogie des freien Assoziieren in der Psychoanalyse verstanden werden. Der Patient assoziiert dabei nicht nur verbal-gedanklich, er folgt auch seinen spontanen Körperimpulsen, die ihm sowohl eingekörperte Traumata und Mangelerfahrungen als auch – tiefer spürend – konstruktive Wege aus diesen heraus zeigen können. Diese Arbeitsweise eröffnet insbesondere Zugänge zu tief verdrängten oder sehr frühen, präverbalen Erfahrungen, die nicht mehr oder noch nie sprachlich-begrifflich erfasst und abgespeichert wurden.
Traumatische Invasions- oder Mangelerfahrungen können körperpsychotherapeutisch nicht nur wiedererlebt werden (das allein wäre therapeutisch nutzlos bis schädlich), sondern sie können im Prozess des Wiedererlebens durch korrigierende Erfahrungen transformiert werden. So kann beispielsweise ein Patient, der in einer körperpsychotherapeutischen Gruppe frühe Erfahrungen tiefer Einsamkeit und Haltlosigkeit (wieder-)erlebt, von der Gruppe beschützend, Wärme und Zuwendung gebend gehalten werden, wodurch er in der Regression Bindungsressourcen spürt, die vielleicht real nie verfügbar gewesen sind. Auf diese Weise kann das aktuelle Erleben und die aktuelle Gefühlsbedeutungen einer alten traumatischen Situation (die ja selbst historisch nicht mehr verändert werden kann) allmählich transformiert werden. Ähnlich kann eine z.B. auf den Unterarm, die Schulter oder den Rücken des Patienten gelegte, tröstende und Beistand gebende Hand des Therapeuten dem Patienten helfen, Zustände tiefster Verlassenheit oder Bedrohtheit zu durchleben und sich dabei zugleich gehalten, beschützt und getragen zu fühlen.
Verfestigte Erfahrungen und Erwartungsmuster, die ansonsten lediglich zu resignativen Wiederholungen führen würden, können auf diese Weise in einem Halt, Wärme und Zuwendung gebenden Rahmen neu und in anderer Bedeutung durchlebt werden. Manche Patienten erfahren auf diese Weise zum ersten Mal, dass sie selbst in Zuständen tiefster Verzweiflung auf haltgebende, nicht invasive Weise warmherzig, aber nicht bedrohlich begleitet werden. (Das kann bisweilen die Weltanschauung eines Menschen verändern …)
Auf ähnliche Weise können in Gruppen (aber auch in der Einzeltherapie mithilfe symbolischer Repräsentanten) „Körpersoziogramme“ erstellt und therapeutisch transformiert werden, bei denen sich der Patient zum Beispiel in verschiedene Personen oder Anteile seiner Lebensgeschichte hineinversetzen und diese verbale und nonverbal miteinander kommunizieren lassen kann.
Nicht nur traumatische und Mangelerfahrungen können in der Körperpsychotherapie dem Erleben zugänglich werden, sondern auch gesunde und kreative Ressourcen, also Freude, Kraft, Wohlempfinden, Begeisterung, Freiheit, Standfestigkeit oder Lust. In der Körperpsychotherapie wird (im Rahmen der erforderlichen psychotherapeutischen Distanz) großer Wert auf spaßvolles, lustvolles Erleben gelegt. Man geht dabei nicht primär von einem Defizit-Modell des Menschen aus, sondern fokussiert vielmehr die Therapie auf die gesunden, vitalen Anteile und immanenten Selbstheilungs- und Transformationskräfte. Die im Körper spürbaren vitalen Ressourcen können in der Körperpsychotherapie erlebbar und beispielsweise mit Hilfe kreativer Medien wie Musik, Malen und Schreiben symbolisch realisiert werden.
Daneben wird auch die körperliche Entspannung, das Ausruhen, die meditative Stille, Verlangsamung, wohliges Gewahrsein, „Nichtstun“, „einfach nur da sein“, Träumen oder Dösen („Alpha-Zustände“) in der Körperpsychotherapie gewertschätzt, gefördert, eingeladen und unterstützt, was insbesondere für Burnout-gefährdete Großstädter überaus heilsam sein kann.
Über Körperpsychotherapie gibt es eine unübersehbare Vielfalt von Veröffentlichungen. (In einer Bibliografie deutschsprachiger Literatur über Körperpsychotherapie hat Geuter 1998 insgesamt 1143 Einzelquellen belegt.) In seinem Buch „Körperorientierte Psychotherapie psychischer Störungen“ (Hogrefe Verlag 2000) beschreibt Prof. Frank Röhricht zentrale Grundgedanken der Körperpsychotherapie. Einen Überblick über den Stand der Körperpsychotherapie gibt das 999seitige „Handbuch der Körperpsychotherapie“ von Gustl Marlock und Halko Weiss (Schattauer Verlag 2006).