Welche Folgen hat ein Trauma?

Trauma

Von einem psychischen Trauma sprechen wir, wenn ein vorher relativ stabiler Mensch Erfahrungen mit massiver körperlicher oder psychischer Gewalt oder Bedrohung macht, die seine Verarbeitungsmöglichkeiten überfordert, die er daher nur mit Abwehrprozessen bewältigen kann, und die dadurch seine psychische Struktur destabilisieren oder verzerren. Traumata bringen einen Menschen in einen Zustand überwältigender Hilflosigkeit, weil seine körperliche oder psychische Integrität oder die von ihm nahestehenden Personen existenziell bedroht ist.

Absurdität

Traumatische Erfahrungen entstehen, wenn ein Mensch mit dem konfrontiert ist, was der Existenzphilosoph Albert Camus als „Absurdität“ bezeichnet. Gemeint sind Erlebnisse, die ein überwältigendes Gefühl der Sinnlosigkeit, der Fassungslosigkeit oder des existenziellen Verlassenseins auslösen. Das kann beispielsweise der Fall sein, wenn ein Mensch als Opfer (oder auch euge) z.B. von körperlicher oder psychischer

  • Misshandlung,
  • Missbrauch,
  • Vernachlässigung,
  • schweren Krankheiten,
  • Verlusten,
  • Vertrauensbruch,Verrat,
  • Entwertung, Demütigung,
  • Verbrechen,
  • Kriegshandlungen oder
  • Naturkatastrophen

unerträgliches Leid erlebt oder miterlebt, wodurch sein bisheriges Selbst- und Weltbild, seine Weltanschauung und seine Welterklärungsmuster, sein Gefühl für Gut und Böse, für Richtigkeit, für das, was sein kann und nicht sein kann, zusammenbricht. Das Vertrauen in die Welt und das grundlegende Gefühl, sich im Leben sicher zu fühlen, wird nachhaltig beeinträchtigt oder zerstört. Der Betroffene sucht nach Erklärungen, z.B.: „Wie konnte das passieren?“, „Warum ist das geschehen?“, „Warum ist das gerade mir/ihr/ihm geschehen?“, aber er findet keine Antwort. Er ist konfrontiert mit existenzieller Absurdität. Seine Weltanschauung wird gesprengt, seine psychische Struktur wird instabil, er verliert die innere Orientierung und erlebt Fragmentierungsangst.

Beispiel: Der amerikanische Psychotherapeut Sheldon Kopp beschreibt in seinem Buch „Das Ende der Unschuld“ (1993), wie seine „naive Weltsicherheit“ dass gute Menschen belohnt und böse Menschen bestraft werden, erschüttert wurde, als ihm mitgeteilt wurde, dass er an einem Hirntumor leide, der nicht operiert werden könne, und an dem er sterben werde. Er habe sich sein Leben lang bemüht, ein guter Mensch zu sein und anderen Menschen zu helfen. Nun wurde er mit einem Schicksal konfrontiert, das seine Weltsicht sprengte und ihn in einen Zustand der Fassungslosigkeit warf.

Beispiel: Die Tochter einer Klientin erkrankte im Alter von drei Jahren an einer lebensgefährlichen Krankheit und litt jahrelang an wiederkehrenden Schüben dieser Erkrankung, die sie immer wieder an den Rand des Todes brachten und zu langen Krankenhausaufenthalten führten. „Sie hat doch niemandem etwas getan. Warum muss sie so leiden?“, sagte die Klientin. Die Klientin war über lange Zeit hinweg mit der Lebensgefahr ihrer Tochter konfrontiert, was ihr grundlegendes Gefühl für Sicherheit im Leben erschütterte und zu einem generalisierten Angstzustand mit wiederkehrenden Panikattacken führte.

Formen von Traumatisierung

Wir können verschiedene Formen der Traumatisierung unterscheiden, unter anderem:

  • Monotraumata sind einmalige oder zeitlich begrenzte Ereignisse z.B. Vergewaltigung, Verprügeltwerden, schwere Krankheit, Vertrauensbruch, Entführung, Unfall, Überfall, Naturkatastrophe.
    Beispiel: Ein Klient ist U-Bahn-Fahrer. Vor einem halben Jahr musste er miterleben, wie sich ein Selbstmörder vor seine U-Bahn warf: „Seit dem komme ich nicht mehr klar. Vorher ging es mir eigentlich gut.“ Er wurde durch das Ereignis traumatisiert.
  • Bei komplexen Traumatisierungen handelt es sich um vielfach in ähnlicher oder unterschiedlicher Form wiederholte Traumata (z.B. fortgesetzte Mißhandlung, Mißbrauch oder Vernachlässigung).
  • Von einem Bindungstrauma sprechen wir, wenn ein Mensch in seiner frühen Kindheit, also in einer Zeit, in der er von tragenden Bindungen existenziell abhängig war, traumatische Ereignisse wie z.B. den Tod einer primären Bezugsperson erlebt hat, die sein Bindungsgefüge und damit seine Bindungsfähigkeit erschüttert haben.

Abspaltung und Verewigung des Traumas

Manchmal ist dem Traumatisierten nicht oder nicht vollständig bewusst, was genau geschehen ist, ob überhaupt etwas geschehen ist, oder wie das Geschehene einzuordnen und zu bewerten ist. Je massiver und verwirrender das Trauma war und je jünger die traumatisierte Person gewesen ist, um so stärker werden einige Aspekte des Traumas oder die ganze traumatische Situation durch dissoziative Prozesse aus dem Bewusstsein entfernt und in abgespaltene Ich-Zustände hinein verlagert (Watkins 2003). Die Person kann die verstörenden Erfahrungen und die damit verbundenen Fragmentierungsängsten dadurch nicht verarbeiten, wird ihre psychischen Folgen aber auch nicht mehr los (Reddemann 2008, Huber 2007, Sachsse 2004, Wöller 2006).

Traumafolgen. Wenn traumatische Fragmentierungsängste aufgrund eines Mangels an inneren (psychischen) und äußeren (sozialen) Ressourcen nicht verarbeitet werden können, müssen sie, ebenso wie frühe Beziehungsstörungen notdürftig durch Abwehrprozesse bewältigt werden. Diese führen zu einer Verzerrung der psychischen Struktur, die je nach Schwere und Dauer der Traumatisierung als posttraumatischer Belastungszustand oder als posttraumatische Strukturstörung in Erscheinung tritt.

Beispiel: Als eine Klientin vier Jahre alt war, kam ihre Mutter in einem Verkehrsunfall ums Leben, die Klientin, ihre Schwester und der Vater wurden nur leicht verletzt. „Das habe ich nie verarbeitet“, sagt sie. Vor einigen Jahren erlebte sie bei einem Urlaub auf einer Insel im Südpazifik einen tropischen Orkan, bei dem sie nur knapp mit dem Leben davonkam. In dem Ort, in dem sie sich aufhielt, ertranken mehrere hundert Menschen oder wurden von einstürzenden Gebäuden erschlagen. Die Klientin war unmittelbar nach dem Orkan „vollkommen geschockt, wie gelähmt und betäubt“. Die akute Todesangst und das Erlebnis, einer Naturkatastrophe hilflos ausgeliefert zu sein (Aktualtrauma), reaktivierte den traumatischen Verlust aus ihrer Kindheit, erschütterte ihre psychische Struktur und führte zu dauerhaften Fragmentierungsneigungen. Die daraus resultierenden Ängste und Übererregungszustände, Schuld- und Schamgefühle waren so unerträglich, dass sie nur durch emotionale Erstarrung, Taubheit und sozialen Rückzug notdürftig kompensiert werden konnten. Die Klientin entwickelte ein posttraumatisches Syndrom mit Zuständen geistiger Abwesenheit, Panikattacken und traumatischen Regressionen.

Freezing und Hyperarrousal

Wenn sich ein Mensch existenziell bedroht fühlt, ist seine unmittelbare Reaktion, entweder zu kämpfen (Wut) oder zu fliehen (Angst). Wenn aber beides nicht geht, entweder weil die Bedrohung übermächtig ist, oder weil die Situation durch Kampf oder Flucht nicht bewältigt werden kann, so verfällt die Person in einen Erstarrungszustand (Freezing), der mit innerer Übererregung (Hyperarrousal) gepaart ist. Wenn eine solche Schockstarre wegen eines Mangels an psychischen oder sozialen Ressourcen nicht aufgelöst und verarbeitet werden kann, so entsteht ein anhaltender posttraumatischer Zustand. Im posttraumatischen Syndrom ist im Energiesystem des Menschen quasi Gaspedal und Bremse gleichzeitig betätigt. Der Körper ist kontrahiert, überangespannt und auf lähmende Weise bewegungsunfähig. Alternierend dazu oder gleichzeitig befindet sich der Traumatisierte in einem Zustand agitierter Überwachheit und Alarmiertheit. Es kann zu Panikattacken und überfallartigen Reaktivierungen des Traumazustandes (Intrusionen, Flashbacks) oder zu Zuständen von geistiger Leere und kognitiver Desorientiertheit (Numbness) kommen. (Reaktionen dieser Art finden wir nicht nur als Resultat von Traumatisierungen, sondern auch als Ergebnis früher Bindungs- und Beziehungsstörungen [Wöller 2006].) Traumata bewirken eine Instabilität der Selbststruktur, die chronische oder zyklisch auftretende Fragmentierungsneigungen und -ängste zur Folge hat. Der Traumatisierte erlebt einen ständigen Wechsel von traumatischem Wiedererleben mit emotionaler Überflutung (Intrusion) und Zuständen von Abwesenheit und Emotionsabschaltung (Dissoziation).

Posttraumatische Fragmentierungsangst

Posttraumatische Zustände gehen mit spezifischen  Fragmentierungsängsten einher. Der Traumatisierte fühlt sich wegen seiner Intrusionen und anhaltenden Alarmreaktionen weiterhin bedroht, wobei die Quelle der Bedrohung in der aktuellen Außenwelt nicht mehr (bzw. nur noch projektiv) zu finden ist. Es entsteht eine chronische, gegenstandslose Angst, Überwachheit und Überempfindlichkeit sowie Überaktivität und übertriebene Schreckreaktionen. Der Klient kann unter Albträumen, nächtlichen Schweißausbrüchen, Schlafstörungen und starken Stimmungsschwankungen leiden, die von Trauma-assoziierten Reizen ausgelöst (getriggert) werden. Er vermeidet bestimmte Situationen und Konstellationen, die mit dem Trauma assoziiert sind. Er neigt dazu, im unbewussten Versuch, eine Auflösung seiner inneren Spannungen zu bewirken, die traumatische Konstellation zwanghaft wiederherzustellen (Re-Inszenierung). Der Traumatisierte fühlt sich entfremdet und isoliert, hat Angst verrückt zu sein oder zu werden, fühlt sich unfähig, erwachsen zu lieben und klammert sich auf abhängige Weise an. Sexuell kann er blockiert sein oder zum Überagieren neigen.

Intrusionen

Intrusionen sind wiederkehrende, unkontrollierbare Einbrüche in Zustände des Wiedererlebens der traumatischen Situation oder der damit assoziierten Gefühle und Zustände. In einer Intrusion wird das traumatische Vergangenene so erlebt, als ob es hier und jetzt sei. Intrusionen können unerwartet und ohne erkennbare äußere Auslöser auftreten (z.B. beim Autofahren, in der Badewanne) oder aufgrund von spezifischen Auslösereizen, die an die traumatische Dynamik gekoppelt sind (Trigger). Ein zentrales Ziel der Psychotherapie nach Traumata ist es, „Intrusionen in Erinnerungen zu verwandeln“.

Mögliche Folgen von Traumata

  • Vermeidung von Trauma-assoziierten Situationen, Orten, Handlungen oder Beziehungen
  • Auslösung traumatischer Reaktionen durch Trauma-assoziierte Schlüsselreize (Trigger)
  • Verlust der Integrität des Selbst (Dissoziation)
  • chronische Erstarrungsreaktionen (Immobilitätsreaktion, Freezing)
  • chronische Übererregung (Hyperarrousal)
  • unbewusste, zwanghafte Wiederholungen der traumatischen Konstellation (Re-Inszenierung, Reviktimisierung)
  • unkontrollierbare Einbrüche des traumatischen Erlebens in das Alltagsbewusstsein (Intrusionen, Flashbacks)
  • strukturelle Rückorientierungen in traumatische Beziehungskonstellationen hinein (traumatische Regression)
  • unkontrolliertes Ausleben destruktiver Impulse (Ausagieren)

Resilienz und Vulnerabilität

Unter dem Begriff „Resilienz“ (von lat. resiliere: zurückspringen, abprallen) werden schützende Fähigkeiten und Eigenschaften von Menschen zusammengefasst, die ihre psychische Stabilität behalten haben unter Bedingungen, unter denen die meisten Menschen zerbrochen wären. Resilienz ist die Fähigkeit, schweren Stressfaktoren zu widerstehen, die normalerweise nur mit Abwehrprozessen bewältigt werden können und zu chronischem psychischem Leid führen. Resiliente Menschen sind aufgrund von inneren oder äußeren Schutzfaktoren (Resilienzressourcen) in der Lage, schwere Lebenskrisen ohne anhaltende Beeinträchtigungen durchzustehen. Als Schutzfaktoren, die zur Erhöhung der Resilienz beitragen, werden u.a. beschrieben:

  • die Überzeugung, selbst über das eigene Schicksal bestimmen zu können,
  • aktive Auseinandersetzung mit Lebensumständen und Problemen,
  • Orientierung auf und Einbindung in soziale Gemeinschaftlichkeit,
  • stabile emotionale Bindungen in der Familie,
  • Bezogenheit auf innere Werte, die von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft geteilt werden,
  • Bildung, Intelligenz, soziale Intelligenz,
  • die Fähigkeit zur Impulskontrolle und zum Befriedigungsaufschub,
  • differenzierte Emotionalität und Empathie,
  • die Fähigkeit, über eigene Gefühle zu sprechen,
  • realistische Selbsteinschätzungen und Zukunftsvorstellungen,
  • die Fähigkeit, eigene Schwächen zuzugeben und um Hilfe zu suchen.

Wenn die inneren und äußeren Ressourcen eines Menschen stark sind, können selbst schwere Traumata oder Beziehungsstörungen ohne dauerhafte Strukturstörung verarbeitet werden. Sie bewirken dann eine vorübergehende Erschütterung der Person, die mit Hilfe erlernter Bewältigungsfähigkeiten und mit Unterstützung des sozialen Umfeldes verarbeitet wird.

Beispiel: Ein Klient war in seiner Jugend deutlich übergewichtig und litt unter starker Akne, was sein heranreifendes Selbstwertgefühl stark belastete. Seine Familie ging mit diesem Problem unterstützend und wertschätzend um, so dass die unvermeidlichen hämischen Anfeindungen durch Gleichaltrige immer wieder aufgefangen werden konnten. Als er 32 Jahre alt war, erwischte er seine Frau in flagranti mit seinem besten Freund, was ihn zutiefst schockierte und zu einem Zerbrechen der Ehe und der Freundschaft führte. Er unternahm eine lange Reise auf einen anderen Kontinent und ausgedehnte Wanderungen in abgelegenen Gebirgsregionen. Nach seiner Rückkehr suchte er Anschluss an eine Selbsthilfeorganisation, in der er bis heute aktiv ist. Er fand darin ein Netzwerk gegenseitiger Unterstützung. Das half ihm, die traumatische Trennung zu verarbeiten. Heute sagt er: „Es war schrecklich, aber es musste so kommen. Ich habe viel daraus gelernt, und heute geht es mir viel besser als vorher.“

Der Gegenpol zur Resilienz wird als „Vulnerabilität“ (Verletzbarkeit) bezeichnet. Vulnerable Personen sind besonders leicht durch Beziehungsstörungen und Traumata zu verletzen und neigen daher verstärkt dazu, chronisches psychisches Leid zu entwickeln.

Werner Eberwein