Hat die Hirnforschung bewiesen, dass wir keinen freien Willen haben?

Wenn wir uns für etwas entscheiden, zum Beispiel wohin wir in Urlaub fahren, ob wir uns eine Einbauküche zu legen, eine Psychotherapie machen oder welche Partei wir wählen, ist unser Wille dann frei, können wir entscheiden was wir wollen, oder ist unser Wille durch irgend etwas vorherbestimmt (determiniert), so dass wir gar nicht anders können, als genau so zu entscheiden wie wir eben entscheiden und dies dann nur im Nachhinein als Willensfreiheit empfinden?

  • Immerhin vertritt der Hirnforscher und Direktor des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in München, Professor Wolfgang Prinz die Meinung, dass die Idee eines freien Willens „mit wissenschaftlichen Überlegungen prinzipiell nicht zu vereinbaren ist“ (Prinz 2003).
  • Auch der Direktor der Abteilung für Neurophysiologie am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt, Professor Wolfgang Singer glaubt, „die Annahme, wir seien verantwortlich für das, was wir tun, ist aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar“ (Singer 2009).
  • Ebenso meint Professor Michael Gazzaniga, der Leiter des Zentrums für Neurowissenschaften an der Universität Santa Barbara/Kalifornien: „Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass der freie Wille eine Illusion ist, denn die Prozesse im Gehirn laufen unbewusst ab wie ein Schweizer Uhrwerk“ (Gazzaniga 2012).

Wenn solche hoch qualifizierten Wissenschaftler, die in den letzten Jahren in der Presse sehr präsent waren, behaupten, dass unser Wille nicht frei ist, so hat das erhebliche Auswirkungen auf Überlegungen zu unserem Rechtssystem, zu unserer Demokratie und schließlich auch zur Psychotherapie:

  • Wenn ein Mörder gar nicht in der Lage ist, einen Mord auch NICHT zu nicht zu begehen, wenn er also gar nicht anders kann, als die Pistole abzudrücken, weil die Entscheidung „in seinem Gehirn“ bereits gefallen ist, so machen all die differenzierten juristischen und psychiatrischen Überlegungen über Schuld- und Zurechnungsfähigkeit (wie jüngst im Breivik-Prozess in Norwegen) überhaupt keinen Sinn mehr, denn kein Mensch wäre je schuldfähig.
  • Wenn mein Wille nicht frei ist, sondern, wie diese Hirnforscher meinen, von „meinem Gehirn“ determiniert, so schließe  nicht ich einen Vertrag, um mir beispielsweise eine Eigentumswohnung zu kaufen, ebensowenig wie ich bei der nächsten Bundestagswahl die Partei XY wähle, vielmehr hätten die Neuronenschaltungen in meinem Gehirn das bereits entschieden bevor ich lediglich glaube, das bewusst zu entscheiden, alles andere sei, so diese Hirnforscher, nichts als eine Illusion. Das Parlament würde also – zugespitzt ausgedrückt – von Neuronen gewählt.
  • Wenn ein Patient in einer Psychotherapie sowieso nicht eigenständig entscheiden kann, wie er leben möchte, weil seine Neuronen das für ihn bereits entschieden haben, dann bleibt als Psychotherapie eigentlich nur die Möglichkeit der Umkonditionierung also die klassische Verhaltenstherapie.

Nun darf ein Wissenschaftler ja nicht einfach irgendetwas behaupten, sondern er muss auch belegen können, was er behauptet. Die Behauptung der Determiniertheit meines Willens durch mein Gehirn kann nur belegt werden entweder,

  • indem ein Hirnforscher in der Lage wäre, vorherzusagen, wie meine Entscheidung aussehen wird,

oder

  • indem er in der Lage ist, meine Entscheidung vorherzubestimmen.

Meiner Ansicht nach ist der deterministische Standpunkt außerordentlich einfach zu widerlegen. Ich müsste bloß in Anwesenheit eines Hirnforschers einen 100-Euro-Schein in meine Hand nehmen und vor mich hin zwei Kartons stellen, auf dem einen steht „Amnesty International“, auf dem anderen steht „Essen gehen in einem Gourmet-Restaurant“. Sodann müsste ich dem Hirnforscher erklären, dass ich innerhalb der nächsten 10 Minuten eine Entscheidung darüber fällen werde, wofür ich diese 100 Euro ausgeben werde. Der Beweis, dass mein Wille frei ist, ist nun schnell geführt. Wenn der Neurowissenschaftler beispielsweise mittels irgendwelcher Apparaturen glaubt, feststellen zu können, dass ich sogleich die Entscheidung fällen werde, die oben genannte Nicht-Regierungs-Organisation verdientermaßen finanziell zu unterstützen, so braucht er mir das nur mitzuteilen, und nichts in der Welt hält mich davon ab, mit meinem freien Willen das Gegenteil zu entscheiden, nämlich mein Geld in einem Nobelrestaurant zu verplempert. Ebenso umgekehrt. Egal was der Neurowissenschaftler glaubt vorhersagen zu können, in dem Moment, in dem er es mir mitteilt, bin ich frei, das Gegenteil zu tun. (Lediglich durch massive Gewalt könnte ich gezwungen werden, seinem Willen zu gehorchen, aber das wäre dann ja keine willensfrei Entscheidung meinerseits mehr.) Bislang ist kein Hirnforscher in der Lage, diesen Test zu bestehen.

Ebenso wie meine Enscheidung nicht vorhergesagt werden kann, ist es nicht möglich, meine Willensentscheidung vorherzubestimmen. Wenn beispielsweise ein gewiefter Hypnotiseur meint, mich hier determinieren zu können, so mag er das gern mal versuchen. Ich wette die oben verwandten 100 Euro, dass niemandem das gelingen wird. Ich bin schließlich selbst seit 15 Jahren Hypnose-Ausbilder, und ich wäre zu so etwas nicht in der Lage. Ein Hypnotisierter mag aufgrund einer geschickt vermittelten posthypnotischen Suggestion zwar einen Drang verspüren, der Suggestion zu folgen, ebenso wie etwa ein Drogenabhängiger einen Drang nach seiner Droge verspürt, aber ebenso wie der Drogenabhängige ist auch der Hypnotisierte dennoch in der Lage, sich auch anders zu entscheiden.

Willensentscheidungen können also weder vorhergesagt noch vorherbestimmt werden. Das ist für mich ein schlagender Beweis dafür, dass wir eine individuelle Wahlfreiheit haben.

Natürlich haben sich die Deterministen unter den Hirnforschern mit dieser Argumentation bereits auseinandergesetzt und entsprechende Gegenargumentationen entwickelt.

So behauptet beispielsweise Professor Gerhard Roth, der Direktor des Zentrums für Kognitionswissenschaften an der Universität Bremen, dass Experimente mit direkter elektrischer Stimulation des Gehirns im Laufe von Hirnoperationen bewiesen hätten, dass ein Patient, dessen Gehirn in seinem motorischen Zentrum einen elektrischen Reiz erhält und daraufhin einen Arm hebt, dieses Armheben als Ausdruck seines freien Willens empfindet. Daraus folgert Roth, dass auch in anderen Bereichen das, was wir als Willensfreiheit erleben, lediglich ein Produkt neuronaler elektrischer Aktivität sei, das erst im Nachhinein zur Willenshandlung erklärt wird (Roth 2009).

Diese Behauptung erscheint insbesondere deswegen zunächst überzeugend, weil kaum jemand in der Lage ist, diese Experimente zu wiederholen, und weil kaum jemand einfachen Zugang zu der Originalliteratur hat, auf die sich Roth bezieht. Daher ist es immer praktisch, wenn sich jemand die Mühe macht, die Originalliteratur nachzurecherchieren. Das hat lobenswerterweise Professor Stephan Schleim von der Universität Groningen in den Niederlanden getan (Schleim 2010). Wie er berichtet, gibt es in der Quelle, auf die sich Roth bezieht, nur zwei Fälle, die so aufgebaut waren, wie Roth sie beschreibt. Sie stammen aus einer Veröffentlichung von José Delgado, Professor für Physiologie an der Yale-Universität (Delgado 1971). Allerdings hat der erste Patient in der zitierten Quelle ganz im Gegenteil zu Roths Behauptung nach dem elektrisch stimulierten Heben seines Armes gesagt: „Herr Doktor, ich schätze, dass ihre Elektrizität stärker ist als mein Wille“, und der Patient Nummer zwei sagte nach dem Experiment: „Ich habe das nicht gemacht, das waren sie“. Die Argumentation von Roth ist also nur so lange überzeugen, bis man die Originalliteratur liest, aus der genau das Gegenteil dessen hervorgeht, was Roth behauptet. „Im Übrigen“, schreibt Schleim (2010, S. 7) „nennt eine aktuelle Übersichtsarbeit zu den Effekten elektrischer Gehirnstimulation im Menschen für keine der 36 aufgezählten Regionen eine beobachtete Willenstäuschung“.

Schauen wir uns einmal an, wie Willensentscheidungen in der realen Lebenswelt vonstatten gehen. Nehmen wir an, jemand entscheidet sich, an einem Kongress teilzunehmen. Warum tut er das?

  • Tut er das, weil frühe Lernerfahrungen in dazu konditioniert haben? Weil er vielleicht im Kindesalter mit lobenden Worten dafür verstärkt wurde, dass er seine Hausaufgaben gründlich gemacht hat? Das mag eine Rolle spielen, aber es erklärt die Entscheidung, sich hier und heute zu diesem Kongress anzumelden nicht hinreichend.
  • Trifft er die Entscheidungen auf der Basis alter Beziehungsmuster, etwa um so klug zu werden wie sein Vater und auf diese Weise um die Liebe der Mutter konkurrieren zu können? Auch das mag eine Rolle spielen, aber es erklärt die jetzige Kongressanmeldung ebenfalls nicht zufriedenstellend.
  • Entscheidet er im aufgrund von systemischen Wechselwirkungen, etwa weil sich Kollegen in seinem Umfeld auch angemeldet haben? Auch das kann keine ausreichende Erklärung sein.

Wenn man eine Reihe von Kongressteilnehmen befragen würde, warum Sie sich angemeldet haben, so könnten sie zum Beispiel antworten:

  • „Weil ich mal sehen wollte, was es auf diesem Feld Neues gibt.“
  • „Weil ich sehen wollte, wie der aktuelle Stand auf diesem Feld ist.“
  • „Weil ich gern gleichgesinnte Kolleginnen und Kollegen treffen wollte.“

Viele Antworten würden sich also gar nicht auf Ursachen beziehen, sondern auf Absichten. Die Frage „warum“ kann nämlich sowohl kausal verstanden werden im Sinne eines „Woher“ als auch final im Sinne eines „Wofür“.

Natürlich sind unsere Entscheidungen auch kausal bestimmt. Dem für den Kongress angemeldeten Kollegen wurde vielleicht ein Flyer zugeschickt, oder er hat eine Annonce in einer Fachzeitschrift gelesen, er hat eine entsprechende Ausbildung gemacht oder ein entsprechendes Studium absolviert usw. Dennoch sind Entscheidungen nicht nur durch Vorangegangenes bestimmt, sondern auch (und meiner Meinung nach beim Menschen vor allem) durch Zukünftiges.

Menschen entscheiden, weil sie etwas wollen, weil sie Ziele haben, die sie antizipieren, die sich an individuell gesetzten Werten orientieren, letztlich weil sie ein sinnorientiertes Leben führen wollen. Selbst bei noch so viel Einflüssen aus der Vergangenheit, die mit den besten Gründen auf eine bestimmte Entscheidung hinwirken, bleibt es dem individuellen Menschen unbenommen, sich ganz anders zu entscheiden. Selbst wenn sämtliche Kollegen der Institution, in der er arbeitet, sich für diesen speziellen Kongress anmelden, selbst wenn alle die gleiche Ausbildung absolviert hätten usw., könnte es sein, dass dieser spezielle Kollege sich dagegen entscheidet, weil er andere Ziele hat, weil er beispielsweise lieber mit seiner Familie in den Urlaub fahren möchte. Das ist Wahlfreiheit.

In der Wirklichkeit ist ein Entscheidungsprozess etwas, das sich über einen längeren Zeitraum hin erstreckt, das sich im Geist vorbereitet und dessen Aufrechterhaltung sich unter Umständen über lange Zeit hinziehen kann. Nehmen wir als Beispiel die Entscheidung, eine Berufsausbildung zu machen. Die Faktoren, die zu dieser Entscheidung beitragen, sind außerordentlich vielfältig. Selbst wenn wir nun nur den eigentlichen Entscheidungsprozess betrachten, ist er noch sehr komplex. Wir könnten den Anfangspunkt des Entscheidungsprozesses (indem wir alles Vorangegangene einfach mal ignorieren) beispielsweise dorthin setzen, wo dem betreffenden das Problem „es wird Zeit, sich für einen Beruf zu entscheiden“ bewusst bzw. fühlbar wird:

  • In der Regel wird das Problem zuerst gespürt, bevor es bewusst erfasst wird,
  • dann beginnt der betreffende, Informationen zu sammeln,
  • sich verschiedene Entscheidungsvarianten vorzustellen,
  • Gespräche darüber zu führen,
  • Konsequenzen verschiedener Entscheidungen zu erwägen,
  • die Alternativen innerlich „anzufühlen„,
  • dann kommt in der Regel eine Phase der „Gärung“, in der die Entscheidung auf einer gefühlsmäßigen und unbewussten Ebene durchgearbeitet wird,
  • oft kommt dann ein Auslöser (beispielsweise das Ende einer schulischen oder universitären Ausbildung),
  • der dann zu einer Grundsatzentscheidung führt,
  • die dann aber erstmal aktiv durchgesetzt werden muss,
  • und der betreffende muss über längere Zeit (mitunter Jahre lang) „dranbleiben„,
  • die Entscheidung unter Umständen immer wieder überprüfen und
  • sich immer wieder neu dafür oder dagegen entscheiden usw.

Wir sehen also, dass Willensentscheidungen höchst komplexe und unter Umständen recht langwierige Prozesse sind. Wie stellen sich nun deterministische Hirnforscher Entscheidungsprozesse vor?

Hier wird immer wieder auf die Experimente des kanadischen Physiologen Benjamin Libet aus dem Jahr 1976 verwiesen (Libet 2007). Libet setzte seine Versuchspersonen vor einen sich schnell drehenden Uhrzeiger und forderte sie auf, innerhalb eines Zeitrahmens von maximal 3 Sekunden einen Knopf zu drücken. Sodann sollten die Versuchspersonen subjektiv einschätzen, zu welchem Zeitpunkt ihre Entscheidung, den Knopf zu drücken, in ihrem Bewusstsein gefallen sei. Dieses Experiment musste jede Versuchsperson 40 mal wiederholen, während mit einem EEG ihre Hirnströme gemessen wurden.

Zunächst stellte Libet fest, dass seine Versuchspersonen angaben, dass sie ihre bewusste Entscheidung – statistisch gemittelt – 200 Millisekunden (also eine Fünftelsekunde) vor der eigentlichen Fingerbewegung gefällt hatten. Libet verrechnete nun die Einzel-EEGs jeder Versuchsperson zu einer Durchschnittskurve und stellte fest, dass durchschnittlich bereits 550 Millisekunden vor der Bewegung und 350 Millisekunden vor dem Moment, den seine Versuchspersonen als „Moment der bewussten Entscheidung“ angegeben hatten, in den EEGs ein Anstieg der elektrischen Aktivität festgestellt werden konnte, das sogenannte „Bereitschaftpotenzial„. Daraus folge, so die oben genannten Deterministen unter den Hirnforschern, dass „das Gehirn“ die Willensentscheidungen bereits vor dem bewussten Willensakt fälle, und das der Mensch in seinem Bewusstsein diese lediglich im Nachhinein als Akt seines Bewusstseins einordne.

Gegenargumente

Gegen die biodeterministische Interpretation der Experimente von Libet sind inzwischen eine unübersehbare Fülle von Gegenargumenten angeführt worden, von denen ich hier vier meines Erachtens besonders überzeugende aufzählen möchte:

  • Ein erstes Gegenargument bezieht sich auf die hohe zeitliche Datenvarianzen die bei Reproduktionen des Libet-Experimentes gefunden wurden. Schon Libet selbst (2007) berichtete, dass das Bereitschaftspotenzial keineswegs immer genau 350 Millisekunden vor der bewussten Absicht auftrat, sondern dass der Zeitraum vielmehr zwischen 422 und 54 Millisekunden variierte. Haggard und Eimer (1999) haben die Experimente von Libet reproduziert und dabei eine deutlich größere zeitliche Varianz zwischen 984 und 4 ms gefunden. Keller und Heckhausen (1990) haben die Libet-Experiment ebenfalls reproduziert und herausgefunden, dass das Bereitschaftspotenzial sogar zwischen 362 ms vor und 806 Millisekunden nach (!) Der bewussten Entscheidung auftrat. Insbesondere das letzte Ergebnis lässt an der deterministischen Interpretation des Libet-Experimentes zweifeln. Wenn bei einem Teil der Versuchspersonen das Bereitschaftspotential fast eine Sekunde nach der subjektiven Terminierung des bewussten Willensaktes (und nicht 350 Millisekunden davor wie bei Libet) einschätzen, so ist das ein starkes Argument gegen die These, dass „das Gehirn“ – sichtbar im Bereitschaftspotenzial – seine Entscheidung vor dem bewussten Willensakt schon gefällt habe.
  • Das zweite Gegenargument ist psychologischer Natur. Es fragt, was eigentlich unter einer bewussten Willensentscheidung zu verstehen sei. Wie oben angeführt sind wahlfreie Entscheidungen normalerweise eingebettet in eine Vielzahl biografische Faktoren und lebenswirkliche Erwägungen. Das, was es im Libet-Experiment willensfrei zu entscheiden gab, ist im Grunde nur, ob die Versuchspersonen an dem Experiment überhaupt teilnehmen will oder nicht. Nachdem diese Entscheidung getroffen ist (in der Regel auch nicht frei weil im Rahmen eines studentischen Experimentalpraktikums getroffen) ist es klar, dass die Versuchspersonen den Knopf drücken wird. Ihre „Wahlfreiheit“ bezieht sich dann nur noch darauf, in welchem konkreten Augenblick innerhalb von 3 Sekunden sie den Knopf drücken wird. Die Wahlfreiheit der Entscheidung ist also durch die Künstlichkeit des Experimentalanordnung derart eingeengt, dass von einer willensfreien Wahlentscheidung im lebenswirklichen Sinn nicht mehr gesprochen werden kann. Das Libet-Experimente reproduziert also nicht die Art und Weise, wie in der alltäglichen Wirklichkeit Willensentscheidungen (zum Beispiel das Wählen einer Partei oder der Beginn einer Berufsausbildung) zustande kommen, da den Versuchspersonen durch die Anordnung des Experimentes sämtliche Möglichkeiten einer wahlfreien Entscheidungen bereits genommen waren.
  • Ein drittes Gegenargument überlegt, wie das Bereitschaftspotenzial eigentlich zu verstehen sei. Das Auftreten einer erhöhten Gehirnsaktivierung lässt ja noch keine Voraussagen darüber zu, ob damit „in Gehirn“ eine inhaltliche Entscheidung getroffen wird, und schon gar nicht welche. Das Bereitschaftspotenzial misst lediglich einen erhöhten Aktivierungszustand des Gehirns und ist damit vergleichbar der Vorspannung im Körper einer Katze, bevor sie mit ihrer Tatze die Maus ergreift. „Das Gehirn“ macht sich – in der an die animistischen Sprache der deterministischen Hirnforscher gesprochen – quasi bereit, eine Entscheidung zu treffen. Das bedeutet aber nicht, dass die Entscheidung inhaltlich schon getroffen ist, sondern lediglich, dass ein Zustand einer erhöhten vor elektrischen Aktivierung eingetreten ist, quasi als Vorbereitung auf die Entscheidung.
  • Das vierte und meines Erachtes schlagende Gegenargument stammt von Libet selbst. Er stellte nämlich fest, dass seine Versuchspersonen auch noch 450 Millisekunden nach dem Auftreten des Bereitschaftspotenzials und bis 100 Mllisekunden (also 1/10 Sekunde) vor der Fingerbewegung sich noch einmal umentscheiden konnten, den Knopf also nicht zu drücken. Dies Rückzugsmöglichkeit im letzten Moment bezeichnete Libet als „Veto-Option“ und wies darauf hin, dass diese beweise, dass der menschliche Wille sehr wohl frei sei. Es ist ja absolut nachvollziehbar, dass, wenn ein Mensch sich z.B. einmal entschieden hat den Abzug einer Pistole zu drücken, er sich innerhalb eines so kurzen Zeitrahmens von einer Zehntelsekunde schwer noch einmal umentscheiden kann. Da die Veto-Option aber auch 450 Millisekunden nach (!) Auftreten des Bereitschaftspotentials noch möglich ist, kann das Bereitschaftspotential logischerweise die Entscheidung nicht determiniert haben.

Nun hat John-Dylan Haynes, Professor an Bernsteinzentrum für Computational Neuroscience in Berlin eine zunächst spektakulär klingende Variante des Libet-Experimentes durchgeführt, diesmal mit einem Kernspintomographen. Seine Versuchspersonen hatten die Alternative, entweder mit der linken oder mit der rechten Hand einen Knopf zu drücken. Haynes behauptet, dass er bereits 10 Sekunden vor dem Knopfdruck aufgrund bestimmter im Kernspintomographen sichtbaren Aktivierungsmuster im Gehirn vorhersagen konnte, auf welcher Seite der Knopf gedrückt werden würde (Soon et al 2008). Wieder klingt das zunächst überaus überzeugend, und die Experimente von Haynes werden daher seitdem vielfach in der populären Presse verbreitet. Allerdings sind seine Ergebnisse weit weniger beeindruckend, wenn man weiß, dass Haynes von seinen ursprünglich 36 Probanden ganze 24 (also zwei Drittel) aus der letztendlichen Auswertung der Daten ausgeschlossen hatte, angeblich deswegen, weil diese den linken und den rechten Knopf zu langsam oder nicht in einem ausgewogenen Verhältnis benutzt hatten. Es blieben nach dieser – statistisch nicht vertretbaren – Vorselektion der Ergebnisse ganze zwölf Versuchspersonen übrig, bei denen Haynes dann „mit 60prozentiger Wahrscheinlichkeit“ aufgrund bestimmter Aktivitätsmuster im Gehirn darauf schließen konnte, ob die Versuchspersonen den linken oder den rechten Knopf drücken würde. Wenn man nun einbezieht, dass bereits die Zufallswahrscheinlichkeit hierbei bei 50 % lag, und dass es Haynes darüber hinaus versäumt hat, zu überprüfen, ob auch seine Patienten über die Libet’sche Veto-Option verfügten, sehen seine Ergebnisse (die er seither übrigens nicht reproduziert hat) doch recht ärmlich aus (Schleim 2010).

Von Neurologen, Psychologin, Philosophen und Juristen sind noch eine Vielzahl weiterer Argumente gegen die biodeterministische Interpretationen ähnlicher Experimente vorgebracht worden (zusammengefasst in Geyer 2004). Ich gehe daher davon aus, dass die Behauptung, beweisen zu können, dass der menschliche Wille nicht frei ist, wissenschaftlich nicht begründet ist.

Werner Eberwein

Literatur

  • Delgado, J.M.R.: Physical Control of the Mind. Towards a Psychocivilazed Society. New York 1971
  • Gazzaniga, M.: Die Ich-Illusion: Wie Bewusstsein und freier Wille entstehen. Hanser 2012
  • Geyer, C.: Hirnforschung und Willensfreiheit: Zur Deutung der neuesten Experimente. Suhrkamp 2004
  • Haggard, P. & Eimer, M.: On the Relation between Brain Potentials and the Awareness of Voluntary Movements. Experimental Brain Research 126:128–133, 1999.
  • Keller, I. & Heckhausen, I: Readiness Potentials Preceding Spontaneous Motor Acts: Voluntary vs. Involuntary Control. Electroencephalography and Clinical Neurophysiology 76, 351-361. 1990
  • Libet, B.: Mind Time: Wie das Gehirn Bewusstsein produziert. Suhrkamp 2007
  • Prinz, W.: Der Mensch ist nicht frei. IInterview in: Das Magazin 2/2003 S. 19
  • Roth, G. & Pauen, M.: Freiheit, Schuld und Verantwortung – Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit. Suhrkamp 2009
  • Schleim, S.: Die Neurogesellschaft: Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert. Heise 2010
  • Soon, C. S., Brass, M., Heinze, H. J. & Haynes, J. D.: Unconscious determinants of free decicions in the human brain. Nat Neurosci, 11(5), 543-545, 2008
  • Singer, W.: Ein neues Menschenbild?: Gespräche über Hirnforschung. Suhrkamp 2009