Warum braucht es einen feministischen Ansatz in der Humanistischen Psychotherapie?

Gastartikel der Feministischen Coaching Akademie Sabine Groth & Johanna Fröhlich Zapata

Viele Frauen (und Männer) tragen nicht ohne Grund ähnliche Probleme mit sich herum, die nicht allein durch persönliche Selbsterforschung erkannt werden können. Das macht für uns Feminismus in Therapie und Coaching aus: Zu forschen, zu erkennen und zu benennen, was eben keine rein individuellen Probleme sind, sondern gesellschaftlich zementierte Glaubenssätze, Abhängigkeiten und strukturelle Missstände, um diese mit dem persönlichen Leid in Zusammenhang zu stellen und aufzulösen.

Mann- oder Frau-Sein: Eine zu selten beachtete Achse in Therapie & Coaching

Ein Eisbär ist perfekt für die Arktis ausgestattet mit seiner schwarzen, wärmeabsorbierenden Haut und dem weißen, tarnenden Fell. Der Mensch dagegen kann theoretisch überall auf der Welt leben, er hat sich dieser Welt auf unterschiedlichste Weise angepasst und umgekehrt die Welt geformt und bewohnbar gemacht. Und dennoch: Wir werden in ein ganz bestimmtes Umfeld und in eine

Gesellschaftsstruktur hineingeboren, in der Vieles vorgeformt ist. So hängt der emotionale Gesundheits- und Krankheitsstatus einer Bevölkerung stark von der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Struktur ab. Wohlbefinden ist nicht nur durch den genetischen Code oder das bloße Vorhandensein von Gesundheitsdiensten oder Versicherungen gegeben. Es gibt unfaire und potenziell vermeidbare strukturelle Unterschiede in einem oder mehreren Aspekten des Menschseins. Diese Unterschiede sind sozial, wirtschaftlich, demografisch oder geografisch definiert. Gender, also die gesellschaftliche Konstruktion der Rolle oder Kategorie „Frau” und „Mann”, ist auch eine Achse, an der entlang Gesundheit, Krankheit, Stellung und Rollenerwartung vordefiniert ist. Viele Frauen (und Männer) tragen nicht ohne Grund Probleme mit sich herum, die nicht allein durch individuelle Selbsterforschung in Gänze erkannt werden können.           

Unser Anliegen ist es, die persönlichen Herausforderungen mit der individuellen Biographie und den gesellschaftlichen Gegebenheiten in Zusammenhang zu stellen und durch diesen umfassenderen Blick zu lösen. Grundsätzlich glauben wir, dass seelisches Leiden wie Depressionen und Ängste, oft eine gesunde Reaktion auf ungesunde Umstände sind. Weil Frauen aufgrund ihres Frau-Seins einer besonderen sozialen Situation ausgesetzt sind, braucht es einen therapeutisch geschützten sowie gendersensiblen Rahmen, um strukturelle Missstände im Alltag der Klientin zu entlarven. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eines binären Geschlechtersystems sind Ausgang und Ursache vieler Missstände, die massive Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Männern und Frauen haben. In der Feministischen Beratung werden gesellschaftliche Probleme deshalb, nicht – wie in anderen Formen der Psychotherapie – ausschließlich individualisiert, sondern auch kontextualisiert.

Ein heilsamer Raum von Frauen für Frauen

Eine Therapeutin kennt aus eigener Erfahrung die spezifischen Befürchtungen, Abwertungen und Probleme, die in unser patriarchales Umfeld hervorbringt. Das rein weibliche Setting, was im Rahmen feministischer Beratung oft gewählt wird, garantiert, dass sich die Klientinnen aufgehoben fühlen und sich direkt auf die Arbeit am eigenen Selbst konzentrieren können. Die Entscheidung, ein rein „weibliches” Setting zu wählen, birgt die Gefahr einer Reproduktion des biologistisch Männlichen oder Weiblichen und ignoriert ironischerweise fluide Genderidentitäten.

Die Auseinandersetzung mit strukturellen Problemen und der Heilung ihrer persönlichen Folgen für die Frau vollzieht sich immer innerhalb bestehender patriarchaler und binärer Denkmuster, aus denen nur ein prozesshafter Ausstieg möglich ist. Der Raum unter Frauen ermöglicht deshalb in jedem Fall ein laborartiges Setting, um Heilung zu erfahren und Selbstwert so zu stärken, denn sobald ein Mann den Raum betritt, läuft bei vielen Frauen ein sehr altes, archaisches Muster ab: Sie prüft unbewusst, ob dieser Mann attraktiv für sie ist und ob sie begehrt werden möchte oder ob sie sich vor männlicher Übergriffigkeit schützen muss. Hinzu kommt, dass bei der Anwesenheit eines Mannes häufig Konkurrenz unter Frauen entsteht. Dies lässt sich auf die jahrhundertealte patriarchale Geschichte zurückführen, in der Frauen von der Gunst eines Mannes abhängig waren, um Einfluss auf Politik, Kultur, Finanzen, Bildung etc. nehmen zu können.

Humanistische und insbesondere Gestalttherapie als Methode der Wahl

Humanistische Psychotherapeut*innen wollen der Vielfalt von Individualität gerecht werden. Sie fördern die persönliche Veränderung ihrer Klient*innen, indem sie diese dabei unterstützen, mit sich selbst und anderen Menschen aktiv neue Erfahrungen zu machen, auf lebendige Weise neue Erlebens- und Verhaltensweisen zu erlernen und bestehende Schwierigkeiten zu überwinden. Frederick S. Perls, der die Gestalttherapie gemeinsam mit seiner Frau Lore Perls (beide ursprünglich Psychoanalytiker) sowie mit Paul Goodman (Sozialkritiker und Schriftsteller) begründete, hat einmal gesagt, „daß Lernen Entdecken ist”. Deshalb wird beispielsweise in einer Gestalttherapie nicht nur geredet, sondern auch ausprobiert und experimentiert: mit Verhaltensweisen, körperlichen Bewegungen und Haltungen, mit Gedanken, Gefühlen und Einstellungen, und zwar sowohl mit den altbekannten als auch mit möglichen neuen. Es werden möglichst alle Bereiche menschlicher Erfahrung einbezogen und erforscht, der zwischenmenschliche Bereich, der emotionale, der körperliche und der intellektuelle. Das alles findet auf lebensnahe, realistische Art statt, und bezieht sich primär auf das aktuelle Leben der Klient*innen. Gestalttherapeut*innen treten dabei nicht in der Rolle eines*r überlegenen Expert*in gegenüber – trotz der beruflichen Qualifikation. Die/ Der Therapeut*in übernimmt vielmehr die Rolle eines persönlich erkennbaren, verständnisvollen Menschen, der sie mit Interesse und Engagement auf ihrer Entdeckungsreise begleitet.      

Humanistische Psychotherapeut*innen sind Begleiter*innen – eine Qualifikation, die in der Ausbildung und der eigenen Therapie erworben wird. Durch diese anregende und zuverlässige Begleitung können die Klient*innen eine Menge Ermutigung und Sicherheit erleben, die sie für ihren zwar manchmal beängstigenden und mühevollen, aber immer auch bereichernden Veränderungs- und Entwicklungsprozess benötigen (Aus: „Was ist eigentlich Gestalttherapie? – Eine Einführung für Neugierige“ von Frank-M. Staemmler (2009).

Die Gestalttherapie bietet individuelle Wege und ein Experimentierfeld für Frauen, um ihren persönlichen Weg zu finden. Es gibt also kein Patentrezept für Feminismus im Leben. Außerdem lebt das Patriarchat von Hierarchien und Asymmetrien, also ungleichen Möglichkeiten, zu entscheiden und selbstbestimmt zu leben. Die Gestalttherapie bricht mit diesem Gefälle. Ich gebe mich in den Sitzungen als Mensch mit meinen eigenen Widersprüchen durchaus zu erkennen. Das schafft Nähe und unterstreicht mein Anliegen: Frauen auf dem Weg in eine gleichberechtigte Struktur zu begleiten anstatt aus einer höheren Position zu belehren.

Care gap und Mental Load sind das Fundament patriarchalen Lebens und eine Hauptursache weiblichen, psychischen Leids

Die Fürsorge-Krise wird vielfach im akademischen Diskurs problematisiert und nun auch – vor allem im Zuge der Pandemie – in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert: Sorge um und Fürsorge für Andere gilt in unserer Gesellschaft in erster Linie als eine in das weibliche Rollenspektrum fallende Aufgabe und entsprechend empfinden weiblich sozialisierte Menschen auch eine gesteigerte Verantwortung dafür, sich sowohl in psychischer als auch in physischer Hinsicht um Andere zu kümmern. In Familien erfolgt die Aufgabenverteilung nachweislich entlang tradierter Geschlechterrollen, d.h. es sind primär Frauen, die sich hier engagieren. Das Problem: Fürsorge ist unbezahlt und erfährt deutlich weniger Wertschätzung als bezahlte Arbeit. In der Folge ist die Verteilung von Ressourcen immer auch eine Frage der Vergütung und der Zeit. Dass Frauen die Fürsorgearbeit zugeschrieben wird ist Ursache aller anderen Gender Gaps.

Bei Wegbruch alter Familienstrukturen wird die Fürsorgearbeit vor allem Müttern zugeschrieben. Mit kleinen Kindern von 0-6 Jahren ist die Anzahl der Stunden, die eine Frau dem Mann „den Rücken frei hält” eine Farce: Im Durchschnitt übernimmt eine Frau 19 Überstunden pro Woche. Das ist Arbeit, die Sie unbezahlt für den Mann ausgleicht (Quelle CareRechner von Alltagsfeminismus). In Therapie und Beratung vollkommen auszublenden, dass neben der Erwerbsarbeit genau diese Last der Fürsorge, der emotionalen Arbeit, der unsichtbaren Denkarbeit und Organisation auf dem Rücken von Frauen lasten, ist ignorant und blendet eine sozial konstruierte Realität aus, die im Sinne der Burnout-Prophylaxe ins Zentrum jeder therapeutischen Intervention mit fürsorge- und/oder erwerbs- arbeitenden Frauen und insbesondere Müttern gehört.

Eines der großen Anliegen der feministischen Psychotherapie und Beratung ist es daher, Frauen darin zu unterstützen, Missstände zu erkennen, Ungerechtigkeiten aufzudecken und sich für ihre Rechte einzusetzen. Auch zu erkennen: Selbstzweifel, Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle sind nicht nur in meiner eigenen Lebensgeschichte begründet, sondern auch Folge einer jahrtausendelangen Abwertung des Weiblichen. Und zu erleben: Der selbstzweifelnden inneren Stimme kann ich eine ermutigende entgegensetzen. Ich kann es schaffen, aus der Opferrolle auszusteigen und Verantwortung für ein gutes, erfülltes Leben zu übernehmen, für mein Leben. Mit diesem Ansatz haben wir eine Ausbildungswoche zur Feministischen Coach konzipiert. Wissenschaftlich fundiert. Ganzheitlich. Konkret. Der erste Durchlauf startet am 26. November 2021. Anmeldeschluss ist der 15.10.2021. Weitere Informationen unter: feministische-coaching-akademie.de

Über die Autorinnen:

Sabine Groth (http://www.sabine-groth.com/) ist Autorin mehrerer Bücher rund um die Themen Weiblichkeit und Persönlichkeitsentwicklung. Sie bietet seit 2009 Jahrestrainigs und Wochenendseminare für Frauen an.

Johanna Fröhlich Zapata (https://alltagsfeminismus.de/) unterstützt Frauen und Paare mit eigenem Coaching-Konzept dabei, einen gleichberechtigten Alltag zu leben. Sie schärft mit CareRechner-App und Workshops das Bewusstsein über den Wert der unbezahlten Care-Arbeit.